Dirk Schäfer
Funktionsbestimmung genetischer Untersuchungen am Beispiel handschriftlicher ‚Reinschriften‘ und ‚Druckvorlagen‘ Immanuel Kants (Arbeitstitel)
Bislang existieren nur wenige Untersuchungen dazu, wie die Handschriften Immanuel Kants zur Interpretation seiner Werke nutzbar gemacht werden können. Dass derartige genetische Untersuchungen einen solchen Nutzen haben, wird explizit oder implizit immer wieder behauptet und scheint sich an mehreren Beispielen verdeutlichen zu lassen: Kants Handschriften können insgesamt zur Aufklärung intertextueller Bezüge Kants zu seinen Vorgänger*innen beitragen. Dokumente, die weitgehende Übereinstimmungen mit den veröffentlichten Druckschriften aufweisen, ohne mit ihnen textidentisch zu sein (sog. ‚Reinschriften‘ und ‚Druckvorlagen‘), lassen zudem Schlüsse auf den Schreib- und Denkprozess des Autors zu. Weitere Zwecke, wie bspw. die Darstellung des Schreibprozesses als Veränderung der eigenen Argumentations- und Denkweise (um einem ‚Geniekult‘ um Kant entgegenzuwirken), sind denkbar.
Eine systematische Auseinandersetzung mit Begründungen und der Bestimmung von Zwecken oder Zielen (‚Funktionen‘) genetischer Untersuchungen, insbesondere mit Bezug auf die Druckschriften Kants, fehlt bisher. Dadurch besteht erstens ein Begründungsdefizit in der Legitimation der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit der Genese gedruckter Schriften. Zweitens kann die Bestimmung der Funktion genetischer Untersuchungen Entscheidungen über angemessene Untersuchungsmethoden fundieren. Und drittens hängt auch die Form der Ergebnispräsentation genetischer Forschung wesentlich von ihren Zielen ab, z.B. insofern die Präsentationsform (bei Editionsprojekten auch der Editionstyp) nicht nur dem intendierten Lesepublikum, sondern auch den zu vermittelnden Inhalten oder Erkenntnissen angemessen sein muss.
Das vorgeschlagene Dissertationsprojekt soll daher einerseits mögliche Funktionen genetischer Untersuchungen in der Philosophie aufzeigen und begründen. Andererseits soll eine noch auszuwählende Reinschrift oder Druckvorlage Kants in Hinblick auf die aus ihr zu gewinnenden Erkenntnisse zur Genese der zugehörigen Druckschrift untersucht werden. Die Arbeit am konkreten Dokument dient einerseits dazu, konkrete praktische Erfahrungen in die Theoriebildung einfließen zu lassen. Andererseits kann so die erworbene Theorieexpertise an die Fachwissenschaft rückgebunden und für sie nutzbar gemacht werden.