Abstracts
Aktuell sind die folgenden Abstracts (in chronologischer Folge) bereits verfügbar:
- Johnny Kondrup: An den Grenzen des Textes? Materialtext und Textur
- Leif Scheuermann: Saxa loquuntur – Römische Inschriften und die digitale Welt
- Sien De Groot: Byzantine Book Epigrams on Ps.-Dionysus the Areopagite – From Document to Edition
- Michał Warzocha: Presentation of sources in digital editions
- Chiara Cecalupo, Domenico Benoci: Archeological discoveries from manuscripts to edition: Antonio Bosio’s Roma Sotterranea and some unpublished ancient inscriptions
- David Herbison: Textual Editing and Documentary Continuity: Marking Old Testament Quotations in Manuscripts and Editions of the Greek New Testament
- Görge K. Hasselhoff: Wie bildet man eine offene Überlieferungstradition ab?
- Stephan Lauper: Dokumente des Unsagbaren. Mystische Bücher und ihre Editionen
- Manuela Putz: Samizdat: Quelle, Edition und Way of Life osteuropäischer Dissidenten
- Camilla Rossini: Back to life. What can we do with copists’ errors?
- Carmela Cioffi: Nicht verbale ‚Lesarten’: Die lemmatischen Markierungen, Kommata und Punkte
- Vera Mütherig: Dokumente hören. Editions- und literaturwissenschaftliche Herausforderungen akustischer Texte
- Mike Rottmann: Was bleibt vom Exzerpt in der Edition? (Un-)Edierte Exzerpte bei Lessing, Marx und Nietzsche
- Matthias Grüne: Dokumente des Zweifels Zur Edition von Otto Ludwigs Studienheften
- Claudia Kroke: Johann Friedrich Blumenbach – online
Die noch fehlenden Abstracts werden zeitnah hier eingepflegt.
Johnny Kondrup: An den Grenzen des Textes? Materialtext und Textur
Der Vortrag nimmt seinen Ausgangspunkt in einer Situation, in der von dem modernistischen Editionsparadigma und dessen Fokus auf den abstrakten Text zugunsten der materiellen Erscheinung oder den materiellen Bedeutungsebenen des Textes Abstand genommen wird. Durch besondere Beachtung grundlegender editionsphilologischer Herangehensweisen wird der Textbegriff des Strukturalismus unter anderem um die Begriffe ‘Materialtext’ und ‘Textur’ erweitert werden. Letzteres ist als ein Vorschlag zur Bezeichnung von Bedeutung generierenden Dokumenteigenschaften gemeint, es erweist sich jedoch als nicht ganz leicht, die Grenze zwischen Materialtext und Textur festzulegen.
Anschließend wird die Frage gestellt werden, wie sich Materialtext und Textur in wissenschaftlichen Ausgaben wiedergeben lassen. Neben drei wohlbekannten Methoden: Kommentar, Wiedergabe in moderner Typographie und Layout sowie Faksimile, wird eine vierte Möglichkeit diskutiert werden, nämlich die physische Kopie des Originals. Dies setzt eine vorurteilsfreie Einstellung voraus.
Leif Scheuermann: Saxa loquuntur – Römische Inschriften und die digitale Welt
Eine zentrale Quelle für die Altertumswissenschaften im Allgemeinen und für die Erforschung römischen Nordwestprovinzen im Speziellen, stellen mit Inschriften und Bildwerken versehene Steinmonumente dar. Insofern verwundert es nicht, dass schon zu Beginn der Altertumskunde, in den Ausgrabungen der frühen Humanisten des 16. Jh. der Beschreibung der Inschriften und Bildwerke eine außerordentliche Bedeutung zukommt. Systematisiert und gebündelt wurden diese Bestrebungen in dem durch Theodor Mommsen initiierten, 1853 begonnenen und bis heute fortgeführten Projekt des Corpus Inscriptionum Latinarum (CIL). Diese Sammlung aller römischen Inschriften stellt ein Referenzprojekt für alle modernen, kritischen Inschrifteneditionen dar, doch ist es immer mit dem Makel fehlender Aktualität behaftet. So stammt der letzte Faszikel des Bandes 13 (Germanische Provinzen) aus dem Jahr 1943; eine Neuedition wurde in den 1980ern begonnen und befindet sich zurzeit in seiner Endphase. Es wird schnell ersichtlich, welche Bedeutung die digitale Edition für die Sammlung lateinischer Inschriften und Bildwerke haben kann. Die langen Produktionszyklen können überbrückt werden und eine stetige Aktualität bleibt idealerweise gewahrt. Insofern erstaunt es auch nicht, dass ebenfalls bereits in den 1980er Jahren mit der epigraphischen Datenbank Heidelberg und der von Manfred Clauss initiierten „Epigraphik-Datenbank Clauss-Slaby“ (EDH) große Inschriftendatenbanken entstanden, die heute zusammen über eine halbe Million Inschriften beinhalten. Beide Institutionen stehen jedoch auf tönernen Füßen. So handelt es sich – trotz seiner Größe – bei Clauss-Slaby letzten Endes immer noch um ein Privatprojekt, wohingegen die Akademie der Wissenschaften Heidelberger angekündigt hat, 2020 die EDH zu einem „abgeschlossenes Forschungsvorhaben“ zu erklären und somit die Finanzierung einzustellen.
Resümierend zeigen sich die digitalen Sammlungen der römischen Inschriften als gut eingeführte Editionsprojekte mit einer bereits langen Tradition, die jedoch heute mehr denn je vom „Aussterben“ bedroht sind. Bereits seit Beginn der Forschungen im 19. Jh. wurde die Frage nach der Repräsentation einer Inschrift durch die Edition intensiv erörtert: Welche Elemente sollten aufgenommen werden? Welche Bedeutungen haben zum Teil als peripher angesehene Aspekte wie Steinqualität, exakte Größe, Größe der einzelnen Buchstaben etc.? Wie soll mit Zerstörungen im Text bzw. Lesungen und Ergänzungen verfahren werden? All diese Fragen stehen in einer langen Tradition der Inschriftenedition, doch gewannen sie im digitalen Medium neue Relevanz, da hier die Multimedialität als Element hinzukam. Beschied sich Manfred Clauss zugunsten einer größeren Menge an Inschriften darauf, nur Texte zu nutzen, beinhaltet die EDH ein äußerst detailliertes Corpus an Metadaten, (von Klassifizierung der Inschrift bis hin zur jeweiligen BearbeiterIn) und integriert Fotos und Zeichnungen. Dies kann und wird auch um den dreidimensionalen Bereich erweitert durch die Integration von Laserscans etc.
Neben der Frage der Multimedialität verhandelt ein derzeitiger, zweiter Diskurs die Frage der Interaktivität. Wer darf edieren? Können Dritte die Sammlung mit Neulesungen bis hin zu Neufunden ergänzen? Wie kann eine Qualitätssicherung gewährleistet werden? Wie kann ein nachhaltiger zitationsfähiger Sammlungsbestand dennoch stetig erweitert werden? Was heißt dies für den Begriff der Auflage?
Diesen Fragen möchte sich dieser Vortrag widmen. Es sollen traditionelle Ansätze zur Frage der Edition römischer Inschriften gezielt aufgezeigt und der Mehrwert der Digitalität in diesem Kontext thematisiert werden.
Sien De Groot: Byzantine Book Epigrams on Ps.-Dionysus the Areopagite – From Document to Edition
Recent studies on the Byzantine Greek epigram have pointed out its peculiar relation to the document. These poems are truly epi-grams (< Gr. ἐπι-γράφω: write upon), as they are inscribed on the very object they take as their subject. Numerous examples from the Byzantine era came down to us: we know of poems written on icons, buildings, jewellery, etc.
Within this corpus of inscriptional epigrams, book epigrams constitute a special group. These poems, composed in metrical verses, were added to medieval Greek manuscripts as paratexts. They could be closely related to the text to which they belong (e.g. metrical summaries or titles) or to the production process of the manuscript itself (e.g. colophon epigrams). In other words, in these cases, the object on which they are inscribed is the very manuscript itself. This creates a unique relationship between the document, the other texts transmitted in it, and the epigram. Byzantine book epigrams are now collected in the Database of Byzantine Book Epigrams, based at Ghent University.
This presentation will focus on the critical edition of book epigrams that were transmitted in the manuscripts of Ps.-Dionysius the Areopagite (a corpus of theological texts from the 5th-6th century). First, it will introduce the genre of book epigrams, with special attention to the close relationship between the text and the document, arguing that it is in many cases impossible to separate them. The examples will come from the manuscripts of Ps.-Dionysius the Areopagite. After this introduction, different editorial techniques that were used within my PhD project will be addressed. I will explore the advantages and disadvantages of publishing a more traditional, paper edition. Furthermore, I will discuss how digital tools can complement paper editions. This will include a demonstration of the Database of Byzantine Book Epigrams. The team behind the database has opted to make different layers available to the user, namely (a) a digital image (when available), (b) a diplomatic transcription of the document (= the occurrence), (c) a normalised and corrected version of the text (= the type), (d) a translation into a modern language (when available). By providing these different types of information, the team wants to assure that it meets two important needs: to transfer to the modern reader/user as exactly as possible what is in the document, while still making the text understandable to readers/users who are not necessarily specialists of palaeography or Byzantine Greek.
Throughout this presentation, I will argue that it is indeed essential to the study of book epigrams to involve a close examination of the document and the relation between the book epigram and other elements of the document, such as images, ornamentation and other texts. It is important that this study is reflected in the edition. I will explore how this can be achieved through different types of editions, and how the study of book epigrams can contribute to new editorial models for similar texts.
Michał Warzocha: Presentation of sources in digital editions
The purpose of the paper is to examine how digital editions of Greek and Latin texts (written from antiquity to middle ages) present their sources to users (apparatus, textus diplomaticus, photocopies etc.) and to determine in what way these editions are making use of possibilities not present in paper ones (e.g. integration of established text and scans available on website) to give easier access to fontes. The analysis is conducted on the sample of more than 100 editions excerpted from two internet databases (https://dig-ed-cat.acdh.oeaw.ac.at and http://digitale-edition.de). In the paper there are shown statistics visualizing the popularity of different methods used by editors and dependencies between type of edited text (literature, epigraphic, inscriptions etc.) and features offered by edition, which give the insight to trends and tendencies in the field of editioning. The results can be of some usage in establishing how digital edition of a texts from distant past should be done to be as useful as possible for scientists and other users.
Chiara Cecalupo, Domenico Benoci: Archeological discoveries from manuscripts to edition: Antonio Bosio’s Roma Sotterranea and some unpublished ancient inscriptions
One of the most intriguing stories of the archaeological excavations in Rome dates back to theend of the 16th and the beginning of the 17th century, a fundamental period for the rediscovering of early Christian art in the Church. In this period, the archaeologist Antonio Bosio explored the Christian catacombs of Rome for the first time and collected a great amount of materials (ancient sources and archaeological objects) in order to write his great masterpiece Roma Sotterranea. He spent all his life writing but unfortunately, when he died in 1629, the work remained unfinished and all his manuscripts were donated to Giovanni Severano, one of the most cultivated priest of the Oratory of Saint Filippo Neri in Rome: he had to complete the work and finally publish the Roma Sotterranea from Cardinal Francesco Barberini in 1630. These manuscripts are actually held in the Biblioteca Vallicelliana of Rome and they are completely available to scholars: in this way it is possible to see how Roma Sotterranea was drawn up before its edition and how the edition process went. During this edition process, Giovanni Severano made massive alterations that changed the work substantially. This will be the focus of our speech, taking as an example the edition of the chapters about the catacomb and church of Saint Pancrazio on the Aurelia Vetus street. His particular manuscript version, written in Latin and catalogued as BV.G5, has been compared to the printed text with interesting results. The final edition of these chapters left out a considerable number of funerary inscriptions that remain only in the manuscript version, as well as all the related information about their discovery. These inscriptions will be analyzed and all the textual parts left out will be rescued and presented during the speech, in order to make clear how the edition process worked and why such important archaeological and historical informations were left out by the editor.
The speech will be made in German.
David Herbison: Textual Editing and Documentary Continuity: Marking Old Testament Quotations in Manuscripts and Editions of the Greek New Testament
The authors of the New Testament frequently incorporated portions of the Old Testament into their compositions by way of explicit quotations and indirect allusions. Such passages are often distinguished from the surrounding text in editions of the Greek New Testament, either in the main body of the text or with marginal notations. However, this interest in calling attention to citations did not begin with modern editors, but is also evident from the numerous examples where scribes have marked citations in the manuscripts they produced. Despite this widespread practice in manuscripts, such information has not been included in current editions. Furthermore, interpretive decisions as to which passages are considered quotations are generally determined by modern definitions of what constitutes a quotation or allusion, independent of the actual witness of the manuscripts themselves, and different editions do not always agree when it comes to which texts get marked as quotations. Given the existence of such editorial features within the manuscript tradition which pursue similar goals to that of current editions, it is worth considering how such data might more directly inform the production of such editions in order to give their users a greater view into this historical development. Therefore, this paper will introduce the scribal methods used for marking quotations in New Testament manuscripts and how editors have indicated such passages in editions of the Greek New Testament. Additionally, I will present ways in which greater attention to these features may positively impact textual research and discuss how such evidence might be incorporated into existing editions.
Görge K. Hasselhoff: Wie bildet man eine offene Überlieferungstradition ab?
Seit mehreren Jahren bereitet eine internationale Gruppe Editoren eine kritische Edition des viersprachigen (arabisch-aramäisch-hebräisch-lateinisch) Werkes „Pugio fidei“(Glaubensdolch) des mittelalterlichen katalanischen Dominikaners Ramon Martí (RaymundusMartini ca. 1220-1284/94) vor. Das Hauptproblem, vor dem das Team steht, liegt darin, dass es zwar ein Autograph des Werkes gibt, die verbreiteten Fassungen aber auf frühere Texttraditionen zurückgehen. Die zwölf erhaltenen mittelalterlichen Überlieferungsträger repräsentieren jeweils eine andere Textstufe. Was also soll ediert werden? Hinzu kommt eine zweite Schwierigkeit: Der Autograf selbst ist keine Reinschrift, sondern ein Arbeitsexemplar: Der Haupttext (lateinisch) ist in einer Zeile geschrieben, für sämtliche Zitate aus den anderen genannten Sprachen wird die Zeile in – nicht markierte – Spaltenunterbrochen, wobei der fremdsprachliche Originaltext zumeist zuerst notiert wurde und die Übersetzung ins Lateinische aus dem Stehgreif formuliert und ergänzt wurde (zum Teil in den in hebräischen Lettern geschriebenen „Quellentext“). Ergänzt wird der Text innerhalb des Textkörpers durch Ergänzungen, die entweder auf den Rand des Blattes (bzw. fortlaufend aufdie Rückseite oder die nächste Seite) oder aber auf eigens eingelegte Pergamentstreifen notiert wurden. Hier stellt sich die Frage: Kann und soll – und wenn ja, wie – diese Werkstatttechnik des Autors in der Edition abgebildet werden? Der einzige echte Vergleichstext dieser Zeit ist das Fragment gebliebene lateinische Werk des Dominikaners Meister Eckhart (ca. 1260-1328), für das die Editoren zunächst eine Darstellungsform in verschiedenen Schriftgrößen und -typen gewählt hatten, dann aber auf einen synoptischen Abdruck gewechselt sind. Mein Vortrag soll beide Editionen thematisieren, jedoch das Hauptaugenmerk auf die eigene Edition Ramon Martís legen mit besonderer Würdigung der Frage, wie sich die divergierende Handschriftentradition darstellen lässt.
Stephan Lauper: Dokumente des Unsagbaren. Mystische Bücher und ihre Editionen
Das Wissen über mittelalterliche Texte und deren Entstehung sowie das Bild von den Autoren, die sie verfassten, wird nachhaltig von Editionen geprägt. Das gilt ganz besonders für Texte (auto)biographischer Art wie die der Viten- und Offenbarungsliteratur, in denen die Leben einzelner Menschen, nicht selten die der Verfasser selbst, ins Zentrum gerückt werden. Ob es sich dabei um rein literarische Texte oder wahrheitsgetreue Erlebnisberichte handelt – worüber seit jeher in der Mystikforschung debattiert wird – spielt für Editionen zunächst eine untergeordnete Rolle. Die persönlichen Erfahrungen von Göttlichkeit und Übernatürlichkeit werden meist als unaussprechlich, als unsagbar von den Autoren beschrieben. Die real existierenden schriftlichen Zeugnisse mit Berichten von Menschen auf der Suche nach göttlicher Erfahrung sind darum per se paradoxe Texte insofern, als mit ihnen die Intention verfolgt wird, Unsagbares zu dokumentieren. Mit meinem Beitrag soll der Frage nachgegangen werden, wie sich dieser Umstand in Editionen von mystischen Texten festhalten lässt.
In meinem Beitrag soll der Frage nachgegangen werden, wie sich die materielle Gestalt von mystischen Büchern in Editionen erfassen lässt. Zentraler Gegenstand der Ausführungen sind zunächst die Vita Rulman Merswins und die Offenbarungen der Elsbeth von Oye, die in aktuellen Projekten erarbeitet werden (mein Dissertationsprojekt zu Merswin) oder bereits teilweise veröffentlicht sind (Schneider-Lastin 2009). Bei beiden Texten steht man beim Edieren vor der Problematik, einen möglichst leicht verständlichen Zugang zu verschaffen zu der in den jeweiligen Überlieferungsträgern erhaltenen komplexen Präsentation der Texte. Korrekturen aller Art, Nachträge und Ergänzungen im Text und am Rand, Tilgungen, Rasuren und weitere kodikologische Besonderheiten wie das Layout, aber auch eingefügte Zettel (Oye) bzw. die Einbindung in einen umfangreicheren Codex (Merswin) zeichnen die Handschriften aus und sind für die Geschichte der Texte von höchstem Interesse. Ebenfalls muss berücksichtigt werden, dass mystische Bücher meist nicht (oder nicht nur) eigenständige Dokumente sind, sondern (auch) von einem (zeitgenössischen oder ‚autornahen’) Redaktor in einen neuen handschriftlichen Kontext gestellt wurden. Im Vordergrund des Beitrags steht somit nicht in erster Linie die Materialität des Mystischen, sondern der gesamte in diesem (Schreib-)Prozess der göttlichen Erfahrung entstandene Text in seinem kodikologischen und paläographischen Kontext.
Die Komplexität der Dokumente von Rulman Merswin und Elsbeth von Oye ist dadurch bedingt, dass es sich um Autographe, also um von den Verfassern selbst erstellte Bücher handelt. Damit stellt sich die grundsätzliche Frage, was man in einer modernen Edition tun kann, d.h. welche Methoden man entwickeln und anwenden will, um die historisch einmalige Überlieferungslage möglichst vollständig zu dokumentieren. So wird schliesslich auch die Frage der ‘Echtheit’ und ‘Autornähe’ besprochen, was zunächst auf der Ebene des Textgehalts relevant ist, ein Editionsvorhaben aber darum beschäftigt, weil als Grundlage eine Leithandschrift gewählt oder (im Fall von zahlreich überlieferten Texten) ein ‘Original’ rekonstruiert werden kann. Dies beschäftigt etwa die Forschung über das ‚Fliessende Licht der Gottheit‘ Mechthilds von Magdeburg immer noch so, dass Unklarheit darüber herrscht, ob die für Editionen ausgewählte Leithandschrift (Einsiedeln, Stiftsbibliothek, Cod. 277) tatsächlich den von der Autorin verfassten Text überliefert oder nicht (Nemes 2008). Bei Mechthild, und in ähnlicher Weise bei Merswin und Elsbeth von Oye, muss man von einem Redaktions- bzw. Übersetzungsprozess ausgehen, der Anhaltspunkte für die ‚Autornähe’ gibt und deshalb auch in einer Edition erfasst werden muss.
Christel Meier-Staubach (Hg.), Pragmatische Dimensionen mittelalterlicher Schriftkultur (Münstersche Mittelalter-Schriften 79), München 2002.
Balazs Nemes, Eya herre got, wer hat dis buoch gemachet? Zum Umgang von Editoren und Redaktoren mit der ‚Autorin‘ Mechthild von Magdeburg, in: Jochen Golz/Manfred A. Koltes (Hg.), Autoren und Redaktoren als Editoren, Tübingen 2008 (Beihefte zu editio 29), S. 18–34.
Wolfram Schneider-Lastin, Leben und Offenbarungen der Elsbeth von Oye. Textkritische Edition der Vita aus dem ›Ötenbacher Schwesternbuch‹, in: Barbara Fleith/René Wetzel (Hg.), Kulturtopographie des deutschsprachigen Südwestens im späteren Mittelalter. Studien und Texte (Kulturtopographie des alemannischen Raums 1), Tübingen 2009, S. 395–467.
Martin J. Schubert (Hg.), Der Schreiber im Mittelalter (Das Mittelalter 7), Berlin 2003.
Manuela Putz: Samizdat: Quelle, Edition und Way of Life osteuropäischer Dissidenten
Der Begriff Samizdat kommt aus dem Russischen und bedeutet Selbstverlag. Er beschreibt die private Herstellung und Verbreitung von Texten in den sozialistischen Staaten Ost(mittel)europas an den staatlichen Zensurbehörden vorbei. Seit den 1960er Jahren gehörte die zumeist nächtliche Anfertigung von Typoskripten oder Fotografien in privaten Wohnräumen und an- schließende Weitergabe an Bekannte und Freunde zur vorherrschenden Aktivität osteuropäi- scher Dissident/innen mit dem Ziel, u.a. Öffentlichkeit im In- und Ausland für ihre Belange zu generieren. Neben Einzeldokumenten erschienenen ganze Samizdat-Zeitschriftenreihen wie das Menschenrechtsbulletin „Chronik der laufenden Ereignisse“, die mit regelmäßigem Erscheinungsdatum eine selbstverlegte Quellenedition darstellte. Analog zum Samizdatbegriff bezeichnet der Begriff Tamizdat (Dortverlag) die Drucklegung dieser Samizdatdokumente und -editionen, die zuvor illegal ins Ausland geschmuggelt und dort von Emigrantenverlagen oder Menschenrechtsorganisationen erneut ediert und gelegentlich über den Eisernen Vorhang reimportiert wurden.[1]
Vor dem Zusammenbruch der Sowjetunion dienten Samizdatdokumente aufgrund der Unzugänglichkeit der Archive als wichtige historische Quelle.[2] Auch die Gründung des Archivs der Forschungsstelle Osteuropa mit seiner umfassenden Samizdat-Sammlung geht auf Forschungszwecke zurück.[3] Wenn der Forschungsschwerpunkt zur Zeit des Kalten Krieges auf den Text- inhalten lag, so steht gegenwärtig sowohl die Materialität der Dokumente, als auch die Produk- tionspraxis als Bestandteil der Subjektkonstituierung von Dissident/innen im Zentrum kulturgeschichtlicher Forschungsarbeiten.[4]
Es ist jedoch die allen Samizdatdokumenten inhärente editorische Praxis, die nach wie vor Fragen bei der Auswertung und Analyse von Samizdatdokumenten aufwirft. So wurden die hand- schriftlichen Primärtexte oft in Gefängnissen und Lagern als fragile Kassiber verfasst und gelangten nur als einzelne Textfragmente an ihre Adressaten, die vor dem Problem der Anordnung, Zusammenstellung und Kommentierung standen. Das „unbeaufsichtigte“ Edieren und anonyme Kopieren führte zur Verbreitung unterschiedlicher Textversionen, deren Inhalte und Aufmachungen verschieden waren und die heute – wenn überhaupt bis in die Gegenwart erhalten – in weltweit unterschiedlichen Archiven und Privatsammlungen lagern. Gingen schon bei der Abschrift wichtige Merkmale für die Quellenanalyse verloren, so traf dies umso mehr auf die zahlreichen im Westen erschienenen gedruckten Editionen zu, die über Jahrzehnte hinweg verzerrte Eindrücke von den tatsächlichen Möglichkeiten des Informationsaustausches suggerierten.
Nicht nur für die Fachdisziplin, sondern auch für Archive stellen Samizdatdokumente und -periodika eine Herausforderungen dar. Überlegungen zum Textkanon einzelner alternativer Szenen befinden sich erst in ihren Anfängen wie auch Konzepte, welche Textkorpora wie nach Ländern geordnet oder sogar länderübergreifend zusammengebracht werden können. Ganz zu schweigen von den Erfordernissen, die die Aufbereitung ausgewählter Samizdatdokumente für digitale Editionen mit sich bringen.[5] Digitale Editionen bieten nicht nur die Möglichkeit der Zusammenführung von Beständen (Dokumenten), sondern geben auch die Gelegenheit Audio- und Videoformate wie Oral History Interviews einzubinden. Mein Beitrag möchte daher einerseits die Problematik von Samizdatdokumenten aus wissenschaftlicher und archivarischer Perspektive einem breiteren Publikum als jenem der Osteuropahistorie oder Dissensforschung zugänglich machen. Andererseits sollen aus Perspektive der Geschichtswissenschaften erste weiterführende Überlegungen diskutiert werden, welche Inhalte und Funktionalitäten digitale Quelleneditionen zu Samizdatdokumenten beinhalten müssten, um überhaupt gewährleisten zu können, das „Phänomen Samizdat“ als Ausdruck des Way of Life osteuropäischer Dissident/in- nen erforschbar und vermittelbar zu machen.
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1 Peter Reddaway (Hg.), Uncensored Russia. Protest and Dissent in the Soviet Union. The Unofficial Moscow Journal A Chronical of Current Events, New York 1972.
2 Albert Boiter, Primary Source Material in the Study of Current Soviet Affairs, in: Russian Review 31 (1997) H. 3, S. 282-285.
3 Eichwede, Wolfgang, Die Forschungsstelle Osteuropa. Archiv und Geschichte, in: ders. (Hg.), Das Archiv der Forschungsstelle Osteuropa. Bestände im Überblick: UdSSR /Russland, Po-len, Tschechoslowakei, Ungarn und DDR, Stuttgart 2009, S. 7-23.
4 Komaromi, Ann, The Material Existence of Soviet Samizdat, in: Slavic Review 63 (2004) H. 3, S. 597-618¸ Oushakine, Serguej, The Terrifying Mimicry of Samizdat, in: Public Culture 13 (2001) H. 2, S. 191-214; „Auf dem Weg nach vorne. Polithäftlinge sind wir!“. Politische Gefangenschaft, transnationale Netzwerke und Iden- titätskonstruktion Andersdenkender in der Sowjetunion der 1960er bis 1980er Jahre, in: Karoline Thaidigsmann / Felicitas Fischer von Weikersthal (Hrsg.), (Hi-)Stories of the Gulag. Fiction and Reality, Heidelberg 2016, S. 101-132.
5 Für eine Online-Plattform/Datenbank siehe: https://samizdatcollections.library.utoronto.ca/
Camilla Rossini: Back to life. What can we do with copists’ errors?
«Es herrscht zu wenig Leben in unseren kritischen Ausgabe»: though almost a hundred year old, this well-known statement (Maas 1927 16) stands true. But how, and by what means, can an editor convey the multifacetedness of textual transmission and materiality into the limited space of the apparatus? What is to be left apart?
As primary victims of the unavoidable selection, wrong textual variants are mostly obliterated in both traditional and digital editions, especially when they certainly come from a copying slip. Moreover, the small minority of errors that actually makes it into the apparatuses, vastly remains dead letter, as the removal of the mistakes - and not their analysis - is the ultimate goal of any philological process.
And yet, the lectiones regarded as wrong can play a major role in the philological discipline. Not only because «Il y a de belles fautes» (Dain 1959 50), but also for they could be useful themselves. In other words: copists’ errors can and should be studied for their intrinsic value as well as for emendatory purposes.
Some examples will be provided. Firstly, some variae lectiones, though fallacious, might trace subtle links between otherwise unrelated documents: e.g. a III century b.C. lexicographical papyrus and the byzantine tradition of Euripides; Aristophanes’ Clouds and an obscure quotation in Orion’s Lexicon . And again: could some copists’ mistakes tell us about their background? On a quite different basis, by systematically scanning the apparatuses, one will realise some mistakes happen very often under similar conditions. What does it tell us about old and new conjectures? Could it affect emendation?
There is, of course, vast consent on the theoretical assertion that emendation can be refined by studying the «peccandi constantia» (Cobet 1873 475). Nevertheless, a lack of widespread studies in the field has often lead to hasty conclusions: from Housman’s renown Constantinopolitanus in place of o , to conjectures pushed through on palaeographical grounds over semantic and mental ones, the selectio and emendatio have more often benefited from philologists’ genius and experience than specific theorizations.
One major issue has always hindered the collection and study of variants: today we would call it data overload. The raw materials coming from collations can not (and should not!) end up as a whole in the apparatuses. Digital editions don’t seem to solve the problem: this kind and amount of data simply doesn’t belong to critical apparatuses. What is more, even when collations are eventually published, they are scarcely used and usable.
Nevertheless, new technologies may indeed provide a solution. If we imagine to store the data in a designated virtual space, to properly index and formalize them with the technologies provided by markup languages and semantic web, we will be eventually able to retrieve them with proper filters, and even to identify recurring patterns and similar aetiologies in mistakes. Not only could such a platform prove advantageous for a number of different ‘traditional’ researches, but it may also be a field test for digital and computational philology.
Carmela Cioffi: Nicht verbale ‚Lesarten’: Die lemmatischen Markierungen, Kommata und Punkte
Der Donat'sche Kommentar wird sowohl als unabhängiger Text als auch am Rand der terenzischen Handschriften überliefert. In diesem letzten Fall werden die Anmerkungen durch bestimmte Zeichen (auch alphabetisch) mit den entsprechenden Versen oder Worten verbunden, die unserem Verweis-System gleichgestellt werden können.
Im ersten Fall übernimmt das Lemma eine entscheidende Rolle als Verweis. Wo das Lemma endet und die Exegese anfängt, wird unterschiedlich zum Ausdruck gebracht: In den humanistischen Handschriften wird zum Beispiel das Lemma durch Unterstreichungen deutlich gemacht. Die von den Schreibern gesetzten Grenzen sind rein textuell von Belang: Aufgrund einer falschen Zuordnung können manche Änderungen an dem Text, die der Schreiber absichtlich oder unabsichtlich vorgenommen hat, begründet werden.
Einem Herausgeber gelingt aber oft nicht, in der Edition zu verzeichnen, wie sich die lemmatischen Markierungen je nach Handschrift ändern. Dieselben Schwierigkeiten begegnet man, wenn es um Kommata und Punkten geht. Die Interpunktion variiert je nach der Sensibilität, die die Schreiber dem Satzaufbau gegenüber zeigen zu haben. Viele Korrekturen, die der Schreiber absichtlich im Text vornimmt, kommen darauf an, wie der Text nach seiner Meinung interpungiert werden soll. Es ist aber unmöglich, den Leser über die Vielfalt der Interpunktion zu informieren.
In diesem Vortrag werden beispielhafte Fälle vorgestellt, welche die textuelle Bedeutung von Unterstreichungen und ähnlichen Zeichen heraustellen. Es wird daher bewiesen, dass die editorische Vernächlassigung dieser nicht-verbalen ‚Lesarten’ einen riesigen Verlust an Informationen bedeuten kann.
Vera Mütherig: Dokumente hören. Editions- und literaturwissenschaftliche Herausforderungen akustischer Texte
Akustische Texte sind möglicherweise mehr noch als schriftliche an ihr Dokument und ihre spezifische Materialität gebunden. In diesem Sinn kann „jede Ausgabe eines Tonträgers als eine Edition verstanden werden.“[1] Nicht nur die jeweiligen Sprecher mit ihren individuellen Stimmklang und sprechkünstlerischen Qualifikation geben dem Text eine unverwechselbare akustische Materialität. Auch die medientechnischen Voraussetzungen der Aufnahmesituation (Mikrophontechnik, Studiobedingungen) und der Postproduktion (Schnitt und Montage), sowie der Trägermedien selbst (Trackeinteilung) ermöglichen erst die textuelle Form. Dabei ist der akustische Text vom Trägermedium zu unterscheiden. „In Zusammenhang mit Audioedition lassen sich diese Begriffe als auditives Format und auditives Medium spezifizieren.“[2] Denn es macht einen Unterschied, wo der akustische Text veröffentlicht wird. Ein Rundfunk-Hörspiel ist editorisch und literaturwissenschaftlich anders zu behandeln als ein Hörspiel, das auf einem Trägermedium, wie z.B. einer CD, erscheint.
Innerhalb einer noch zu entwickelnden Systematik der Audioedition[3] ist Robert Musil. Der Mann ohne Eigenschaften. Remix[4] ein signifikantes Beispiel für solche Fragestellungen. Denn die Herausgeber verstehen die Hörbuchproduktion als eine forschungsrelevante und philologisch fundierte akustische Nachlassedition. Das Hörbuch ist dabei schon im Hinblick auf seine Materialität eine Besonderheit: Entgegen der allgemein üblichen Form eines Booklets in der CD-Hülle, schließt sich hier an die Audiodateien auf insgesamt 20 CDs ein Buch an, das neben der kompletten Verschriftlichung des Audiomaterials auch Kommentare und Aufsätze der Herausgeber, des Regisseurs und weiteren an der Produktion beteiligten Akteuren, wie z.B. Walter Fanta beinhaltet.[5] Neben diesen teilweise klassischen Paratexten des Begleitbuches ist das akustische Material ebenfalls eine Mischung aus unterschiedlichen Quellen, bestehend aus den zu Lebzeiten veröffentlichten Romanteilen, dem über 10.000 Einzelblätter umfassenden Nachlassmaterial, aktuellem O-Ton-Material und einer Paraphrase von Elfriede Jelinek. Folgt die am kanonischen Schrifttext orientierte Grundlage deren narrativer Abfolge, wird die chronologische Erzählung durch die einmontierten Textsorten von anderen Autoren aufgebrochen. Und nicht zuletzt ist die Produktion ursprünglich im Kontext einer innovativen Hörspielästhetik der Abteilung Hörspiel und Medienkunst des Bayerischen Rundfunks entstanden und dort auch uraufgeführt worden.
Diese sehr heterogenen Zusammenhänge lassen sich am besten mit Hilfe der audiomedialen Paratexte des Hörbuchs diskutieren, die auf drei Ebenen zu verorten sind: 1. der akustischen (Stimme, Geräusche, Musik), 2. der medientechnischen (produktionsbedingte, z. B. Schnitt und Stereophonie, und formatbedingte, z. B. Trackeinteilung) und 3. der begleitenden Ebene (z. B. Booklet, schriftliches Begleitmaterial). Denn Paratexte präsentieren nicht nur den Text, sondern sie sind – in Anlehnung an das prominente Zitat von Genette – diejenigen Elemente, welche die Gestalt eines Hörbuches erst ermöglichen.[6] Anhand dieses Beispiels lassen sich also zentrale editions- und literaturwissenschaftliche Fragen an akustische Textdokumente erörtern[7]: Wie ist das Verhältnis von akustischem Text und seinem Trägermaterial zu bestimmen? Wie sind die unterschiedlichen Textsorten im Hinblick auf ihren editorischen Status zu bewerten? Was ist der akustische Text? Was ist Kontext? Wie verhält sich die Hörbuchproduktion zu ihrer Rundfunkvorlage? Verändern die unterschiedlichen medialen Träger (Rundfunk, Hörbuch) die Ästhetik des Textes? Nicht zuletzt: Wie verhält sich das Hörbuch zu seiner schriftlichen Romanvorlage?
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1 Toni Bernhart: Bücher, die man hören kann, oder: Über das Fehlen editionswissenschaftlich informierter Audioeditionen, in: Stephanie Bung, Jenny Schrödl (Hg.): Phänomen Hörbuch. Interdisziplinäre Perspektiven und medialer Wandel. Bielefeld 2017, S. 59–67, hier S. 61.
2 Toni Bernhart: Audioedition. Auf dem Weg zu einer Theorie, in: Anne Bohnenkamp (Hg.): Medienwandel/Medienwechsel in der Editionswissenschaft. Berlin 2013, S. 121–128, hier S. 122.
3 So stellt bereits Bernhard fest, dass die Audioedition „ein noch zu entwickelndes Arbeitsfeld, das literatur-, medien-, archiv- und musikwissenschaftliche, aber auch technikgeschichtliche und tontechnische Kompetenzen fruchtbar miteinander in Verbindung bringen kann.“ Bernhart, Toni: Bücher, die man hören kann, oder: Über das Fehlen editionswissenschaftlich informierter Audioeditionen, S. 67.
4 Musil, Robert: Der Mann ohne Eigenschaften. Remix. Hrsg. von Katarina Agathos u. Herbert Kapfer. Bimediale Edition. 2. Aufl. München 2005.
5 Darüber hinaus werden dem Leser auch zusätzliche Informationen zur Entstehung und zum Verständnis des ursprünglichen Romans präsentiert: Faksimiles, Interviews mit u. a. Alexander Kluge, Roger Willemsen, Inka Mülder-Bach oder Volker Schlöndorff, oder Textbeiträgen von u. a. Peter Weibel oder Karl Corino, die sich alle mit verschiedenen Aspekten des Stoffes auseinandersetzen.
6 „Von ihnen [den Paratexten Anm. d. V.] weiß man nicht immer, ob man sie dem Text zurechnen soll; sie umgeben und verlängern ihn jedenfalls, um ihn im üblichen, aber auch im vollsten Sinn des Wortes zu präsentieren: ihn präsent zu machen, und damit seine ‚Rezeption‘ und seinen Konsum in, zumindest heutzutage, der Gestalt eines Buches zu ermöglichen.“ Gérard Genette: Paratexte. Das Buch vom Beiwerk des Buches. Frankfurt a. M. 1989, S. 9.
7 Zu diskutieren ist außerdem Bernharts Einschätzung, dass Audioeditionen nicht dem „Anspruch historisch- kritischen Ausgabe nahekommen“ können. Bernhart, Toni: Bücher, die man hören kann, oder: Über das Fehlen editionswissenschaftlich informierter Audioeditionen, S. 62.
Mike Rottmann: Was bleibt vom Exzerpt in der Edition? (Un-)Edierte Exzerpte bei Lessing, Marx und Nietzsche
Im Zentrum dieses Vorschlags steht der Versuch, Exzerpte und Kollektaneen[1] als editorische Her- ausforderungen zu identifizieren und bereits vorliegende Editionen vor diesem Hintergrund zu analysieren. Das Ziel besteht mithin in einer systematischen Sichtung und Problematisierung des durch vorliegende Editionen nachvollziehbaren historischen Umgangs mit Exzerpten und Kollek- taneen. Dieser Versuch gründet auf der Annahme, dass die Geltung des Exzerpts/Kollektaneenhefts als ‚Dokument‘ für den Editor von ideenpolitischen Konstellationen und Autorschaftskonzeptio- nen abhängt: Der allgemeine Diskurs über Originalität, Genialität und Plagiat beeinflusst die Entscheidung des Editors, Exzerpte/Kollektaneen zu edieren – oder diese Korpora auszuschließen. Sofern Exzerpte ediert worden sind, stellen sich zunächst zwei Fragen, die hier anhand von Fallbei- spielen bearbeitet werden sollen: (1) welche Bedeutung wurden Exzerpten konkret beigemessen (z.B. als ‚Lektüre-Dokument‘) und (2), auf welche Weise wurden Exzerpte ediert (etwa mit Kom- mentar und Quellenhinweis, Wahrung ihrer materiellen Umgebung). Als erster Zugriff ist die Be- obachtung von Interesse, dass die einschlägigen Nachlässe namhafter Autoren (Lessing[2], Marx[3]) unverzüglich gesichtet und Exzerpte wenn nicht vollständig, so doch zumindest in Teilen ediert worden sind. Folglich muss ein Bewusstsein für den dokumentarischen Wert dieser ‚Texte‘ bestan- den haben, während weniger sensible Editoren Exzerpte nicht erkannt und diese als eigenständige Notate des von ihnen bearbeiteten Autors ediert haben (bsp. frühe Nietzsche-Edition[4]). So gesehen stellen diese textuellen Phänomene, ganz unabhängig von der hier behaupteten ideenpolitischen Verwicklung von Exzerptedition und Originalitätsdiskurs, eine konkrete (editions-)philologische Herausforderung dar, die Gadamer einmal mit Blick auf Schleiermacher und Dilthey ganz lako- nisch gefasst hat: „Exzerpt und eigene Darlegung sind oft schwer zu unterscheiden.“ Für den Editor gilt es das konkrete Problem zu lösen, ob Exzerpte geschlossen ediert oder im konkreten Zusam- menhang der Handschrift dargestellt werden sollten – dies wird besonders in den Notatheften Nietzsches anschaulich, da dort Exzerpt und Notat ineinander übergehen, zugleich aber das Be- dürfnis aus Nutzersicht zu konstatieren ist, die Exzerpte als selbständige Größen rezipieren zu können. Schließlich bearbeitet diese Fragestellung das terminologische Problem, das mir dem Begriff ‚Dokument‘ verbunden ist: Ist das Exzerpt „[a] passage reproduced verbatim from a document“[5] oder „[a] set of passages out of a document indicating the subject contents of the document“[6]?
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1 Zum Forschungsstand vgl. Elisabeth Décultot, Einleitung: Die Kunst des Exzerpierens. Geschichte, Probleme, Perspektiven, in: dies. (Hg.), Lesen, Kopieren, Schreiben. Lese- und Exzerpierkunst in der europäischen Literatur des 18. Jahrhunderts. Berlin 2014, 7-47, zur Forschungsliteratur ebd., 8, Anm. 1.
2 Vgl. Elisabeth Blakert, Grenzbereiche der Edition: die Paralipomena zu Lessings Laokoon, in: editio 13 (1999), 78- 97; ferner Christine Vogl, Lessings Laokoon-Nachlass. Mögliche Antworten auf editorische Fragen, in: Jörg Robert, Friedrich Vollhardt (Hg.), Unordentliche Collectanea. Gotthold Ephraim Lessings Laokoon zwischen antiquari- scher Gelehrsamkeit und ästhetischer Theoriebildung. Berlin, Boston 2013, 41-98.
3 Vgl. Werner Schuffenhauer, Karl Marx und die philosophischen Quellen des Marxismus im Spiegel der Marx-Engels- Edition, in: Buchstabe und Geist. Zur Überlieferung und Edition philosophischer Texte. Im Auftrag der Arbeits- gemeinschaft philosophischer Editionen der Allgemeinen Gesellschaft für Philosophie in Deutschland hg. von Walter Jaeschke, Wilhelm G. Jacobs, Hermann Krings u. Heinrich Schepers. Hamburg 1987, 147-157.
4 Vgl. Mazzino Montinari, Zum Verhältnis Lektüre-Nachlaß-Werk bei Nietzsche, in: editio 1 (1987), 245-24.
5 Gernot Wersig, Ulrich Neveling (Hg.), Terminology of documentation. A selection of 1,200 basic terms published in English, French, German, Russian and Spanish. Paris 1976, 144.
6 Ebd., 145
Matthias Grüne: Dokumente des Zweifels Zur Edition von Otto Ludwigs Studienheften
Die „Romanstudien“ des Schriftstellers Otto Ludwig (1813–1865) gehören zu den wichtigsten literaturtheoretischen Zeugnissen des deutschsprachigen Realismus des 19. Jahrhunderts. Es handelt sich um zwei Arbeitshefte, in denen Ludwig neben seinen Ideen zu eigenen literarischen Projekten auch Überlegungen zur Theorie des Romans und den Formgesetzen des Erzählens aufgezeichnet hat. Zu Lebzeiten unveröffentlicht, kommt den „Romanstudien“ doch eine außergewöhnliche Bedeutung zu und zwar gleichermaßen als Text wie als Dokument: als Text, da die Hefte zentrale Aussagen zum realistischen Literaturprogramm ebenso wie wegweisende erzähltheoretische Analysen enthalten; als Dokument hingegen, weil sie über ihre äußere Form und materielle Erscheinungsweise den Arbeitsvorgang, das Suchen nach Stoffen und Begriffen und den Prozess der Theoriebildung eindrücklich vermitteln.
Die einzige umfangreichere Edition der Studienhefte wurde rund 40 Jahre nach Ludwigs Tod von Adolf Stern vorgelegt. Sie hat wichtige Passagen des Textes einem größeren Publikum bekannt gemacht, für dieses Ziel jedoch den besonderen Charakter des Dokuments fast vollständig zum Verschwinden gebracht. Das Tentative und mitunter Erratische in Ludwigs Studien, das Ringen um feste poetologische Grundsätze ebenso wie die Zweifel an dem Ertrag des Theoretisierens kann der Leser von Sterns homogenisierter Textfassung nicht annähernd erfassen. Denn diese Qualitäten ergeben sich erst aus dem dokumentspezifischen Zusammenspiel von Haupttext und Randglossen, aus dem Neben- und Übereinander verschiedener Textschichten ebenso wie aus den Veränderungen im Schriftduktus. Dieses editorische Desiderat soll im Rahmen des seit April 2017 laufenden DFG-Projekts „Historisch-kritische Edition von Otto Ludwigs Romanstudien“ behoben werden.
Der Vortrag reflektiert die theoretischen Grundlagen dieses Projekts unter Berücksichtigung der im Zuge des Arbeitsprozesses gewonnenen praktischen Erkenntnisse. Im Mittelpunkt steht dabei die Frage nach den Möglichkeiten und Grenzen einer dokumentennahen Edition von Studienmaterialien. Dafür soll zunächst präzisiert werden, was das Studienheft als Dokumententyp von verwandten Typen wie dem Notizheft oder dem Tagebuch unterscheidet. In einem zweiten Schritt werden dann – zunächst auf theoretischer Ebene, dann mit Bezug auf das konkrete Editionsprojekt – unterschiedliche Strategien vorgestellt, wie die spezifischen Merkmale des Dokumententyps aufgenommen und dargestellt werden können. Aufbauend auf diesen Überlegungen widmet sich der letzte Teil des Vortrags den Möglichkeiten der digitalen Edition. Vorschläge zur Auszeichnung der besprochenen Dokumenteigenschaften im Rahmen einer XML/TEI-Transkription sollen dann anhand von eigenen Codierungsbeispielen zur Diskussion gestellt werden.
Claudia Kroke: Johann Friedrich Blumenbach – online
Über das Projekt
Das Langzeitprojekt „Johann Friedrich Blumenbach – online“ (http://www.blumenbach-online.de) ist ein Langzeitvorhaben im Rahmen des Akademienprogramms der Union der deutschen Akademien der Wissenschaften, angesiedelt bei der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen. Es läuft seit Januar 2010 und umfasst unter anderem eine Online-Edition von Blumenbachs publizierten Schriften (einschließlich Übersetzungen und Folgeausgaben), angereichert mit digitalen Abbildungen von naturhistorischen bzw. ethnologischen Sammlungsobjekten. Die Edition von Blumenbachs Werken wird eine wichtige Lücke in der Erschließung der Primärquellen zur Kulturgeschichte der Spätaufklärung und der Romantik schließen. Diese Lückenschließung ist besonders bedeutsam in Hinblick auf einen wichtigen Aspekt dieser Periode: das Aufkommen der neuzeitlichen Naturwissenschaften.
Der Vortrag wird über Planung und Fortschritt der Arbeit mit Objekten aus eigentlich diametral entgegengesetzten Bereichen des Dokumentspektrums, die in dieser Edition zusammengeführt werden, informieren.
Über Johann Friedrich Blumenbach
Johann Friedrich Blumenbach (1752–1840) war Professor für Medizin und Naturgeschichte an der Universität Göttingen. Er war einer der führenden Vertreter des sich um die Jahrhundertwende revolutionär verändernden geologischen und biologischen Weltbildes. Sein Werk zeigt exemplarisch die Wechselwirkungen zwischen den Lebens-, Geistes- und Sozialwissenschaften dieser Zeit. Die Publikations- und Übersetzungsgeschichte seiner Schriften ist beispielhaft für die europäischen und transatlantischen Dimensionen der Societas Litterarum der Epoche. Blumenbach stand in engem Kontakt mit vielen führenden Naturforschern in den Hauptstädten Europas. Als Kurator des Göttinger Academischen Museums war Blumenbach ein eifriger Sammler. Es ist mit Sicherheit anzunehmen, dass die Ankunft dieser Stücke, von denen viele überliefert sind, bedeutende Veränderungen in seinen Konzepten und Theorien zur Naturgeschichte und Anthropologie auslöste.
Über die Editionsarbeit
Eine ausschließlich elektronische Edition von Quellen des 18. Jahrhunderts, die multilingual, multithematisch und multimedial sind, steht vor etlichen Herausforderungen. Der Vortrag beschreibt die im Vorfeld einer solchen Edition zu bewältigenden Planungsschritte und deren Umsetzung hinsichtlich der Verwendung von internationalen Standards für Metadaten und Dateiformate zur Gewährleistung der Interoperabilität, Nachnutzbarkeit und Langzeitarchivierung. Er illustriert die Gradwanderung bei der Schaffung von maschinenlesbaren Inhalten, der Integration traditioneller Editionspraktiken und der Anbindung von virtuellen elektronischen Objekten an ihre analogen „Vorfahren“.
Die Textquellen der Edition werden als farbige Digitalisate der Buchseiten, und als mit Zusatzinformationen (Identifizierung von Personen, Orten, Sekundärliteratur, Fußnoten etc.) angereicherter Volltext angeboten. Die Entscheidung für eine Volltextauszeichnung mit XML-TEI musste notwendigerweise weitere Überlegungen nach sich ziehen, z. B. nach der Einbindung von materialen Befunden in diese XML-Strukturen, sowie nach dem benötigten Grad der Granularität des Markups für qualitativ hochwertige Ergebnisse, so dass die Texte für unterschiedliche wissenschaftliche Disziplinen nutzbar werden.
Auch die von Blumenbach gesammelten Objekte müssen in einem erweiterten Dokumentbegriff berücksichtigt werden. Das Blumenbach-Projekt zeigt exemplarisch die Verbindung beider Welten mittels der direkten Anbindung der Volltexte an die Beschreibungsdaten und die in diversen Formaten (u. a. als Stereoskopie, Halbkugelanimation) vorliegenden digitalen Abbildungen der darin erwähnten Sammlungsobjekte per Hyperlink. Die Präsentation zeigt, dass nur eine elektronische Edition in der Lage ist, eine detaillierte und visualisierbare Analyse von Blumenbachs Werk zu ermöglichen, die Entwicklung und Verbreitung von Ideen und Texten über einen langen Zeitraum sichtbar zu machen und so neue Felder für inter- und multidisziplinäre Forschung zu erschließen.